Alladin ist mein Stammcafé. Jeden Abend auf dem Weg nach Hause gehe ich rein und verbringe einige Zeit dort. Während ich Zeitung lese, wird der Tee schon serviert. Der Kellner, der mir Tee serviert, ist ziemlich jung. Ich schätze so 16 oder 17 Jahre alt. An dem Tag, als mir der Alte begegnete, ging es mir nicht besonders gut. Ich hatte Streit mit ein paar Kunden, eigentlich Stammkunden, die sich über die Produkte, besser gesagt, Konsumgüter, beschwert hatten. Der Alte saß an meinem Stammtisch. Ich konnte ihm nicht einfach sagen, er solle sich irgendwo anders hinsetzen. Ich setzte mich auf meinen Platz und fing an, die Zeitung zu lesen. Plötzlich hörte ich seine Stimme.
„Es ist nicht einfach“, sagte er. „Es ist nicht einfach“, sagte er noch mal. Ich guckte ihn fragend an. Er saß mit seinen ganz geöffneten Augen mir gegenüber und schaute mich an. Ich hatte das Gefühl, als wäre er sauer auf mich. Ich habe ihn ja nur angeguckt. Was kann ich dafür, wenn mein Blick kritisch ist. Er war alt. Wie alt? Es war schwer zu schätzen. Aber er war alt, mit vielen Falten im Gesicht. Mich hat sein Satz „es ist nicht einfach“ gestört.
Wenn ich Ruhe brauche oder etwas lesen möchte, gehe ich immer ins Café. Was denken Sie? Er fragte mich und lächelte ohne meinen Zorn gemerkt zu haben.
Warum? Weil Sie was denken?
Mir wurde klar, er hatte entweder eine Meise oder wollte vielleicht mit jemandem ins Gespräch kommen.
– Warum möchten Sie wissen, was ich denke?
Nur so. Wir sind hier doch zusammen, am selben Tisch, im selben Café, in derselben Stadt und vor allem erleben wir das gleiche.
Wieso das gleiche?
Wir haben doch die gleiche Umgebung oder nicht?
Eigentlich hatte ich keine Lust mit jemandem ins Gespräch zu kommen. Ich wollte in aller Ruhe die Zeitung lesen und nach Hause gehen. Es war mein Stammcafé. Der Kellner kannte mich gut. Ich brauchte keinen Tee zu bestellen. Er wusste Bescheid. Nun hatte ich keine Lust mehr die Zeitung weiter zu lesen.
Wissen Sie, die Welt verändert sich rasch. Wir leben in Gefahr. Was wollen wir? Existieren – sonst nichts.
Er kam mir wie ein Rhetoriker vor, der Menschen mit seinen Worten zu sich ziehen kann. Will er mich wirklich beeindrucken, dieser dreckige alte Mann? .
Sie sind auch ein Opfer wie ich, sagte er leise.
Ich habe ihm nicht zuhören wollen. Aber er versuchte weiter mit mir zu sprechen.
Sehen Sie mal, ich will meine Ruhe haben und Zeitung lesen, sagte ich.
Er schien mich gar nicht gehört zu haben.
Ich weiß, die Welt ist ein Gefängnis und diese Stadt ist eine Zelle. Haben Sie mal gesehen, wie kaputt diese Stadt ist. Überall Trümmerhaufen. Die Busse sind kaputt und verschmutzen die Umwelt. Die Beamten sind korrupt und die Politiker sind Räuber. Dann die Scheinheiligen mit ihrem sogenannten Dschehad versuchen den Menschen ein ganz anderes Bild vom Islam vorzugaukeln.
Er redete wie ein Wasserfall.
– Warum denken Sie so negativ? fragte ich.
Er wollte mir Angst machen. Es war mir bekannt, wovon er erzählte. Aber ich hatte keine Lust darüber zu reden. Warum sollte ich darüber reden? Mir geht’s gut. Ich habe keine Probleme. Der Alte starrte mich dauernd an und wollte weiterreden.
Die Stadt ist schön, sagte ich.
Schön? Hässlich, potthässlich ist Ihre Stadt, erwiderte er. Diesmal war seine Stimme sehr laut.
Wieso meine Stadt? Das ist ja auch Ihre Stadt.
Ja, ja, deshalb sage ich, es gibt hier viel zu tun. Sagte er nun langsam.
Wie lange leben denn Sie hier? Auf meine Frage hin wurde er nachdenklich. Dann fing er an langsam zu erzählen.
Meine Familie kam 1948 nach Karachi. Ich war 16 damals. Eine sehr schöne Stadt war es mit dreihunderttausend Einwohnern. Eine am Meer liegende Stadt. Frische Luft und wenig Verkehr. Heute ist sie so groß geworden. 15 Millionen Menschen leben hier und die Infrastruktur ist immer noch ein großes Fragezeichen.
Während er erzählte, wurde mir allmählich das Dasein dieser Stadt bewusst. Ich habe nie die Stadt genau beobachtet. Mein Hauptinteresse war hier Geld verdienen und das Leben genießen, egal wie. Aber ich war nicht der Einzige, es gab auch viele andere mit ähnlichen Lebenseinstellungen. Warum wollte der Alte mit mir reden? Es gab ja auch andere Menschen im Café.
Wissen Sie wie viele Menschen in dieser Stadt unterm Existenzminimum leben? Er wollte mir weismachen, dass er Besserwisser war und die Welt besser sehe und wisse, wie die in der Welt existierenden Probleme aussähen. Ich lächelte. Ohne eine Miene zu verziehen fuhr er fort.
Mein Herr, Karachi ist die größte Stadt Pakistans. Die Politiker bezeichnen es als Mini-Pakistan. Einige von Ihnen behaupten, wenn Karachi lebt, lebt Pakistan. Und trotzdem wollen sie Karachi nicht entwickeln.
Hören Sie mal, Karachi hat alles, was eine moderne Stadt braucht, sagte ich. Ich merkte, meine Stimme wurde laut: Diese Stadt hat moderne Wohnviertel, schöne Wohnblocks, Supermärkte und vor allem viele Industrien. Es geht uns gut. Der Alte merkte meine Unsicherheit beim Sprechen. „Es geht uns nicht schlecht“. Ich sagte es sanft. Er schien von meiner Aussage nicht überzeugt zu sein. Ich wollte ihm eigentlich die helle Seite dieser Stadt darstellen. „Es ist schön hier. Die Menschen sind anders. Sie sind liberal, progressiv, aber einige sind auch konservativ“.
Plötzlich spürte ich Mitleid mit dem Alten. Ich wollte jetzt tatsächlich mit ihm reden, seine Meinung erfahren und seiner pessimistischen Darstellung dieser Stadt eine erfreulichere Dimension geben. Aber wie? Ich war noch beim Überlegen. Er fing wieder an zu meckern:
Für Sie gibt’s hier alles – aber nicht für alle. Die Stadt ist schön, sagten Sie. Die Stadt war schön. Heute haben wir viele Probleme. Die Bildung ist im Eimer und Armut herrscht überall. Was sagen Sie dazu?
Als er mir die Frage stellte, beobachtete er die Fliege, die um seine Tasse herumflog. Er guckte mir nicht in die Augen. In dem gleichen Augenblick hörten wir zwei Schüsse.
Die Anwesenden des Cafés sahen besorgt aus. Die Sirenen der Polizeiwagen brüllten beim Vorbeifahren. Der Alte lachte. In diesem Augenblick hasste ich ihn. Dieser dreckige Alte, schlecht bekleidet, beobachtete die leere Tasse, als hätte er keine Schüsse gehört. Die Anwesenden des Cafés fragten einander nach den Schüssen. Keiner konnte die Frage beantworten. Aber dann nach einer Weile war alles wieder normal, als wäre nichts passiert. Der Alte war noch da. „
Wissen Sie, Sie haben einen langen Weg zu gehen.
Warum sagen Sie mir das? Ich konnte ihn nicht richtig verstehen.
Ich glaube, Sie wissen nicht viel über die Stadt. Ja, hier kann man überleben. Man trifft hier Menschen aus aller Welt. Die Menschen sind freundlich trotz ihrer Armut. Diese Stadt duldet alle, ob reich oder arm. Die Religion spielt keine Rolle hier. Aber wer macht etwas für diese Stadt? Sie oder ich oder die Politiker? Keiner. Haben Sie mal den Sonnenuntergang am Meer betrachtet? Und die Schiffe auf dem Meer, die aus der Ferne kommen und dann wieder weiterfahren?Am Meer sieht man Karachi in seiner ganzen Pracht, und dann die Innenstadt mit ihren alten Häusern aus der Kolonialzeit. Viele Gebäude sind renovierungsbedürftig. Was macht die Regierung dafür?
Er redete weiter und ich wollte gehen. Ohne mich von ihm zu verabschieden, stand ich auf und ging zum Ausgang. An der Tür drehte ich mich um, um noch einmal auf den Alten einen Blick zu werfen. Er sah mich ebenfalls an… Ich konnte das wissende Lächeln auf seinem Gesicht nicht ertragen und verließ schnell das Café.
Shamim Manzar lebt in Karachi (Pakistan) und arbeitet am dortigen Goethe-Institut als Deutschlehrer. Shamim hat diese Geschichte auf Deutsch geschrieben. Gewöhnlich schreibt er auf Urdu.
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